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Nach einem Jahr in Russland gewöhnt sich eine Schweizerin an das Leben in der Metropole Moskau

Das blaue Geschirr

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Von Onlinewoche-Autorin Alexandra Stark 

Genau vor einem Jahr bin ich in Russland angekommen. Hätte ich gewusst,
auf was ich mich einlasse, wäre ich wohl kaum mit Sack und Pack in
Zürich in den Zug gestiegen, sondern hätte mich sofort in ein
Schließfach geschlossen. Aber ich wusste ja zum Glück nicht, dass
Russisch eine so schwierige Sprache ist, die Leute, so lange man sie
nicht kennt, vor allem unfreundlich sind, die Pressestellen sich mit
Presseverhinderung beschäftigen und der Winter lang, dunkel und kalt ist.

Das war ja auch nur der Anfang, der allerdings acht Monate dauerte.
Mittlerweile kann ich Russisch (es redet einfach), ich habe die
freundliche  Seite der Russen kennen gelernt, habe mir ein Netzwerk
aufgebaut, so dass ich bei der Arbeit an den Pressestellen vorbei komme
und es ist Sommer, kurz zwar, aber hell und heiß. Was will ich mehr?

Der russische Alltag hat mich eingeholt, ich schlage mich mit den
banalen Dingen des Lebens herum. Morgen zum Beispiel kommt meine
Vermieterin Swetlana wieder. Wie jeden Monat einmal holt sie ihre Miete
ab. Ein Vergnügen, das sich russische Vermieter nur ungern entgehen
lassen. Erstens ist es ein gutes Gefühl, mit einem Bündel frisch
gebügelter Dollarscheine abzuziehen. Und zweitens muss sie ja auch ganz
genau schauen, ob alles in Ordnung ist.

Schließlich wohne ich ja in Swetlanas Wohnung. Und es sind ihre Stühle,
auf denen ich sitze und ihr Bett, in dem ich schlafe. Sie sieht sich
immer ganz ungeniert um. Meistens ist sie zufrieden, wenn sie zu einer
Tasse Kaffee die grünen Scheine vorgezählt bekommt. Nur das letzte Mal
wollte sie noch ein paar Dinge mitnehmen, die sie in der Wohnung
zurückgelassen hatte. Sie erwartete nämlich Besuch. «Wo ist das blaue
Geschirr?», sagte sie. «Welches blaue Geschirr?», fragte ich, an ein
blaues Geschirr konnte ich mich nicht erinnern. «Die weißen Teller mit
dem blauen Muster drauf», sagte sie. «Ich hatte sie dagelassen, damit du
sie benutzen kannst, wenn es einmal etwas zu feiern gibt». Kann gut
sein, dass in meiner Wohnung blaue Teller stehen, denn meine Wohnung ist
voller Dinge, die mir Swetlana, als sie auf ihre Datscha zog,
hinterlassen hat. «Die blauen Teller lagen im Schrank im kleinen Zimmer.
Darauf war noch eine Plastiktüte mit Besteck», sagte Swetlana bestimmt.

Nur, der Schrank ist längst nicht mehr im kleinen Zimmer sondern im
Schlafzimmer. Und was auch immer dort drin gelegen hatte, es ist sicher
nicht mehr dort, weil der Schrank jetzt voller Kleider ist. Swetlana
stürmte in die Küche und riss alle Schränke auf, auf der Suche nach den
blauen Tellern. «Hast du sie kaputt gemacht?», fragte sie mich. «Ich
habe diese Teller nie gesehen», sagte ich. «Doch, hast du. Die waren da,
als du eingezogen bist! Ganz sicher!».

Irgendwann meinte Swetlana dann, ich könne ja später noch suchen. Ihr
Besuch käme noch nicht gleich und sie ging. Endlich. Kaum war sie aus
der Tür raus, kam mir in den Sinn, wo die Teller noch sein könnten: Im
Wohnzimmer, in der Kommode, deren Tür klemmt. Ich fing an, die Dinge
rauszuziehen. Eine alte Balalaika mit nur noch zwei Saiten kam zum
Vorschein. Eine alte verbeulte Pultlampe, drei abgewetzte rote
Plastikschüsseln, ein zerbrochener Kleiderbügel und staubige
Sofaüberzüge. Und zu unterst lagen die Teller und daneben das Besteck.

Swetlana war schon fast bei der Ringstrasse, als ich sie einholte. Von
weitem schrie ich «Swetlaaaaanaaaaa! Die Teeeeeellleeeeeer!». Die
Passanten schauten mich etwas irritiert an. Swetlana lächelte
freundlich. «Hab ich doch recht gehabt!», sagte sie triumphierend.

Wenigstens macht Swetlana keine weiteren Probleme. Nicht wie die
Vermieterin eines Freundes, der, als er einmal einen Tag zu früh aus den
Ferien kam und seine Vermieterin mit ihrem Liebhaber auf dem Sofa
überraschte. Entschuldigt hat sie sich nicht. Nur gesagt: «Hättest auch
sagen können, dass du früher aus den Ferien kommst!»

Eine Kolumne für die Schweizer Zeitschrift "Annabelle"

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zurück zur Startseite Erschienen im Rheinischen Merkur Ausgabe:28/97