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        Onlinewoche-Autorin Alexandra Stark mit einem
        Erfahrungsbericht über die Sitten der Russen  
         
        «Schauen Sie nicht so besorgt!», sagte die nette Dame tröstend und lächelte 
        freundlich. «Es ist überhaupt nichts passiert! Ich habe blaue Augen!» 
         
        Was meinte diese Frau? Ich hatte gar nicht besorgt geschaut, höchstens
        ein 
        bisschen irritiert. Denn die Fotos, die ich in Sibirien geknipst hatte, 
        riefen in ihr offenbar Erinnerungen wach und sie redete wie ein
        Wasserfall 
        auf Russisch auf mich ein. Ich verstand kaum etwas, nickte aber höflich, 
        sagte ab und zu ah, ach so und ja, damit es nicht sofort auffiel, dass
        ich 
        eigentlich gar nichts kapierte. Ihr Hinweis auf die blauen Augen
        allerdings 
        brachte mich total aus dem Konzept. Die Frau bemerkte meine Verwunderung
        und erklärte mir: «Sie haben mir in die Augen geschaut, als ich Ihnen
        sagte, wie sehr ich Sie um diese Reise beneide! Weil ich aber blaue
        Augen habe, ist nichts passiert. Wären meine Augen dunkel, hätte ich
        Ihnen Unglück gebracht.» 
         
        Gut, ich weiß nicht über alles Bescheid, was mich sonst noch alles
        sofort 
        ins Unglück stürzen könnte, sondern erfahre es nur nach und nach.
        Denn das 
        Unglück lauert in Russland immer und überall, viele Russen sind extrem 
        abergläubig. Eine falsche Bewegung und  schnapp  ist die Falle zu.
        Sei es, 
        weil man zum falschen Zeitpunkt den Abfall rausträgt, wenn es dunkel
        ist 
        jemandem Bargeld aushändigt oder Gästen zur Begrüßung über der Türschwelle
        die Hand gibt. 
         
        Während die meisten Russen darauf bedacht sind, das Schicksal nicht
        allzu 
        sehr herauszufordern, gibt es allerdings auch andere. Solche zum
        Beispiel, 
        die zwei Stunden in drei Grad kaltem Wasser schwimmen gehen. Ein sehr 
        charmanter Verfechter dieser Form der Körperertüchtigung saß letzthin
        bei 
        mir in der warmen Küche und versuchte mir weiszumachen, dass das 
        wissenschaftlich erwiesen gesund sei. Als er sich verabschiedete, küsste
        er 
        mir die Hand. Ich machte die Tür hinter ihm zu. Kurz darauf klingelte
        es. Er 
        hatte seine Zeitungen vergessen. Er kam noch einmal rein, nahm den
        Stapel 
        Papier und schaute einen Moment lang in den Spiegel. «Noch einmal 
        zurückkommen bringt Unglück. Außer man schaut kurz in den Spiegel». 
         
        Zwei Stunden im Eiswasser schwimmen geht, aber noch einmal zurückkommen
        bringt Unglück. Ich wunderte mich wieder einmal über dieses verrückte
        Land und kam ins Grübeln: Was ist eigentlich mit den Ausländern? Ich
        als Schweizerin weiß nicht einmal, dass ich dauernd kurz davor bin,
        mich total unglücklich zu machen und  noch schlimmer  dabei andere
        mit ins Verderben zu stürzen. Wie kürzlich, als ich im Park saß und
        fröhlich vor mich hin pfiff. Einem alten Mann missfiel dies. «Mädchen!
        Hören Sie sofort auf zu pfeifen, das bringt Unglück!», sagte er. Was
        denn genau passiere, wollte ich wissen. «Sie verlieren alles Geld!»,
        sagte er fast flehend. Ich fand das ein bisschen albern. Aber die Russen
        machen ja nie halben Sachen. Wenn Scheiße kommt, dann immer in
        geballter Ladung. «Alles Geld?», fragte ich und antwortete gutgelaunt
        «ach wissen Sie, das ist mir im Moment eigentlich egal». Da wurde der
        alte Mann richtig zornig. «Ja Ihnen vielleicht schon. Aber wenn Sie
        pfeifen und ich laufe Ihnen über den Weg, bringt das auch mir Unglück.» 
         
        Im Moment laufe ich zum Glück nicht Gefahr, mich und andere durch mein 
        Pfeifen ins Verderben zu ziehen. Meine Halsschmerzen zwingen mich, die
        ganze Zeit dicke Tabletten zu lutschen, die mir das Pfeifen verunmöglichen.
        Bis vor kurzem hätte ich mir nicht ausmalen können, dass sogar Halsweh
        seine guten Seiten hat. 
         
        Bis bald und herzliche Grüße aus Moskau! 
         
        Alexandra 
         
         
        Eine Kolumne für die Schweizer Zeitschrift "Annabelle"
         
        Ihr
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